Der Klangeindruck für den oder die Musiker*in im Orchester unterscheidet sich deutlich vom Klangeindruck des Publikums. Nicht nur die Instrumente, der ganze Klangkörper ist dahingehend konzipiert, dass er mit dem Konzertsaal in Resonanz gerät und eine symbiotische Verbindung mit dem Raum eingeht. Als Zuhörer im Saal bekommt man das Ergebnis dieser komplexen Verbindung zu hören. Zentrales Merkmal dabei ist die Entfernung zum Instrument, die den Klang weich und warm werden lässt.
Viele Orchestermusiker*innen sind regelrecht süchtig nach dem direkten Klang des eigenen und der in direkter Nachbarschaft klingenden Instrumente. Eine Unmittelbarkeit, die einen anspringt. Sie zeigt sich nicht nur in einer höheren Lautstärke der Nebengeräusche (z.B. vom Saitenstrich oder der Klappen), sondern im Ansprechverhalten jedes einzelnen Tons. Was die Luft über die Entfernung nivelliert, sind die kleinen Spitzen und Impulse, technisch Transienten genannt, die für das Ohr aufregend sind.
Warum? Eine mögliche Begründung: Wir Menschen sind evolutionär darauf trainiert, z.B. auf knackende Äste im Wald besonders schnell zu reagieren. Die Transienten versetzen uns in eine Alarmbereitschaft, die wir als erhöhten Energiezustand wahrnehmen. Die Popmusik weiß dass zu nutzen und mikrofoniert so nah an der Klangquelle, wie es nur geht. In der Klassik bevorzugt man üblicherweise die entspanntere Distanz.
Was wäre, wenn man dem Zuhörer das Klangerlebnis des Orchestermusikers medial vermitteln könnte?
Der Frage nach dem Klang im Inneren des Orchesters widmete ich mich in einem 360° Video Forschungsprojekt mit den Münchner Symphonikern und dem Dirigenten Kevin John Edusei, die mich dankenswerterweise in ihre Probe ließen. Sehr geholfen haben mir dabei Clarence Dadson von Design4real, Johannes Müller, Leo Waidosch, Fons Adriaenson, Martin Rieger, Roland Bachmann von Sennheiser und Christian Lehmler von den Bavaria Musikstudios. Danke für die großartige Unterstützung!
360° Video / Virtual Reality
360° Video in der Virtual Reality Brille bietet sich wie kein zweites Medium für solche Einblicke direkt in das Geschehen an und so verwundert es auch nicht, dass im VR-Hype des Jahres 2016 mehrere Experimente mit Orchester unternommen wurden.
Im Eifer des Hypes wurde dabei über der Ton leider kaum nachgedacht. Mal wurden zwar verschiedene Kameraperspektiven eingenommen, aber über alle Perspektiven hinweg die gleiche „Master“-Stereomischung gelegt (z.B. hier). Das hat viele praktische Vorteile, vor allem den vom Dirigenten und Tonmeister ausbalancierten Gesamtklang, und geht einher mit der üblichen Praxis, dass Nahaufnahmen in einem Orchester-Videomitschnitt auch nicht perspektivisch bedient werden. Im „Teleportationsmedium“ Virtual Reality empfand ich das aber immer als falsch. Da will ich auch akustisch am Zielort sein, und zwar so, dass der Höreindruck entgegen der Kopfbewegung räumlich stabil bleibt.
Andere Male wurde genau mit dieser Räumlichkeit experimentiert, mit leider oft zweifelhaftem Ergebnis (z.B. hier). Der Grund hierfür ist, dass laut Theorie für die synthetische Binauralisierung (also die künstliche Herstellung einer räumlichen Ortung im dreidimensionalen Raum über Kopfhörer) möglichst isolierte Signale vorhanden sein müssen, was bei einer Orchesteraufnahme schwierig zu bewerkstelligen ist, da z.B. das Blech mit voller Wucht in allen anderen Mikrofone fast ebenso laut zu hören ist wie in seinen eigenen. Auch ich nahm in meinen ersten Versuchen richtende Mikrofone, die aber zu einem gepressten Klangbild führen, das man eigentlich gar nicht hören will (deswegen nimmt man fast immer sog. Kugeln). Auch hier gilt: Garbage in, garbage out. Wenn der Klang vom Mikrofon schon nicht stimmt, wird er durch das weitere Processing nicht besser.
Die meisten Male aber wurde schlicht sorglos oder unwissend mit dem Ton umgegangen, z.B. einfach mono geschaltet (wie z.B. hier). Wahrscheinlich aber hat die schlechte Bildqualität der damaligen GoPro Kamerarigs und der abflauende Hype um VR den Experimenten ein vorzeitiges Ende verschafft. Heute gibt es endlich gute und praktikable 360° Kameras.
Forschungsfrage
Ohne Hype forscht es sich besser. Meine Hauptfrage war, ob es möglich ist, die für eine groß und offen klingende klassische Aufnahme nötigen Mikrofontechniken (Kugelmikrofone und A-B Stereophonie) in das für ein 360° Video nötige sog. Ambisonics Format zu bekommen (entspricht M-S oder X-Y Stereophonie), ohne Klangeinbussen durch Kammfiltereffekte zu erleiden. „Es phast“, sagt man umgangssprachlich dazu (von Phase).
Weiter erwartete ich, dass sich dieses offene Klangbild um den ganzen Kopf herum drehen kann, ohne dass der Klang zwischendurch Schaden nimmt. Ich finde, man soll die Drehbarkeit eigentlich gar nicht offensichtlich merken. Im alltäglichen Leben merkt man ja auch nicht, dass sich der Höreindruck bei jeder kleinen Kopfbewegung ändert. Trotzdem erwarte ich, dass die Instrumente an ihrem Platz bleiben. Die Flöte, die rechts von mir sitzt, soll also von hinten zu hören sein, wenn ich mich nach links zur Oboe drehe.
In Kauf nehme ich bei der Verwendung von Kugelmikrofonen ein Stück weit, dass die räumliche Ortungsschärfe diffuser wird, als sie mit gerichteten Mikrofone möglich wäre. Schlussendlich glaube ich sogar, dass die Lautstärkebalance noch etwas entscheidender für das Mittendrin ist, als die räumliche Ortung. Wenn ich neben der Oboe sitze, dann soll die auch so laut klingen, wie ich es erwarte. Dabei trotzdem den Gesamtklang des Orchesters nicht zu verlieren, das ist die entscheidende Herausforderung.
Ansatz
Für dieses 360° Experiment interessierte mich die Position zwischen den ersten Holzbläsern, die nah beieinander in einem Viereck sitzen. Eine zentrale Position im Orchester, die etwas erhöht einen Blick über die Streicher erlaubt und nach hinten ansteigend die Blechbläser und Schlagwerker einen im Nacken sitzen lässt. Eine sicherlich nicht ausbalancierte Position, aber genau das fand ich daran reizvoll.
Das übliche Hauptmikrofon über dem Dirigenten ergibt aus dieser Perspektive keinen Sinn. Stattdessen zeichnete ein Sennheiser Ambeo VR Mic den Schall an der Kameraposition rundherum so auf, dass er nachher auch der Richtung zugeordnet werden kann, aus der er kam.
Unterstützt wird dieses Ambisonics Hauptmikrofon von den auch in regulären Aufnahmen üblichen, im Orchester verteilten Stützmikrofonen (Kugeln!).
Die „Outriggers“, Kugelmikrofone an den vorderen Flanken des Orchesters, die dem Klangbild eine besondere Breite hinzufügen, erweiterte ich um ein weiteres Paar an den hinteren Flanken. Quadrophonische Outriggers sozusagen.
Gemischt habe ich die in Samplitude aufgenommenen 24 Aufnahmekanäle in Reaper mit Spatial Audio bzw. Ambisonics Plugins von DearVR, Facebook360, IEM und BlueRipple.
Prototyp
Diskussion
Ich bin grundsätzlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Das primäre Ziel, ein „unphasiges“ Klangbild herzustellen, halte ich für geglückt. Der offene Klangeindruck der Kugelmikrofone bleibt durch das Ambisonics-Processing hindurch erhalten, was ich nicht für selbstverständlich halte. Wünschen würde ich mir eine höhere Ortungsschärfe.
Objektiv ein Problem ist der Klang der Streicher. Vielleicht müssten sie gar nicht mal so viel lauter sein, aber die Größe des Apparats bildet sich nicht ab. Da hätte ich die Stützmikrofone für die Blechbläser besser den Streichern hinzugegeben. Zwei Mikrofone pro Gruppe wären wohl richtig. Ich dachte, ich bräuchte die Stützen am Blech, um deren Ortung zu präzisieren, aber das hat sich nicht eingelöst.
Außerdem ist der Frequenzgang insgesamt etwas enttäuschend. Die Wuchtigkeit des Orchesters ergibt sich maßgeblich über den Raum, und dieser Raum hier hat wenig Volumen zu bieten. Die nahe Mikrofonierung untergräbt darüberhinaus das Resonanzsystem zwischen Orchester und Raum. Normalerweise würde man über ein Hallgerät einen größeren Raum simulieren und addieren können, das hab ich auch getan, aber das widersprach in diesem Fall dem visuellen Eindruck des 360° Videos. Aber auch die Binauralisierung nimmt Bass weg. Auf jeden Fall ist da noch Optimierungsbedarf.
Ausblick
In meinen zukünftigen Projekten möchte ich vermehrt mit dem Klang aus dem Inneren des Orchesters arbeiten. Mein Interesse daran ist eher noch gestiegen. Der entscheidende Unterschied zu diesem Forschungsprojekt wird sein, dass sich der oder die User*in durch das Klangfeld des Orchesters selbst bewegen kann (6dof). Er oder sie kann also die Klangbalance der Instrumente durch seine Position im orchestralen Klangfeld selbst bestimmen.
Dieses 360° Video Experiment diente dazu, herauszufinden, was die Herausforderungen und Qualitäten dieser Hörposition an einer statischen Position sind. Diese Erfahrungen werden mir bei der Bewältigung der noch viel schwierigeren Aufgaben der interaktiven Begehbarkeit von großem Nutzen sein.