Ambiophonie ist eine weniger obskure Angelegenheit als ich annahm. Zu Anfang dachte ich, dass das nur eine der üblichen, „Phasenschweinereien“ verursachenden Verschlimmbesserungen im Sinne von Pseudo-Stereo ist, aber die Technik hat echtes Potenzial. Vor allem z.B. für Installationen.

Falsche Richtungsinformationen und Pseudo-Stereo

Die Verwandschaft zu Pseudo-Stereo ist gegeben. Grob gesagt, über eine Invertierung der Phase auf einem der beiden Stereokanäle wird das Übersprechen eines Lautsprechers auf die zwei Ohren verringert. Ein rechter Lautsprecher wird, dadurch, dass er auch vom linken Ohr gehört wird, auch zu einem linken Lautsprecher, wenn auch leiser. Wenn nun erreicht wird, dass das linke Ohr weniger vom rechten Lautsprecher hört und umgekehrt, wird die wahrgenommene Stereo-Breite größer. Das kennt man vom Kopfhörer, da gibt es nahezu gar kein Übersprechen.

Wer schon mit Center-Lautsprechern gearbeitet hat, weiß darüberhinaus, dass eine Phantommitte (der Klangeinddruck, der entsteht, wenn das selbe Signal von beiden Lautsprechern im Stereodreieck gleich abgestrahlt wird und dadurch aus der Mitte zwischen den beiden Lautsprechern wahrgenommen wird) deutlich anders klingt als ein echter Lautsprecher für die Mitte. Das hat damit zu tun, dass die Ohrmuschel den Klang anders färbt, je nach Richtung, aus der der Schall kommt. Das macht sie, um den Gehirn Hinweise zu geben, aus welcher Richtung der Schall kommt. Am neutralsten und linearsten kommt der Schall aus der Mitte vorne. Nur dann kommt der Schall auch genau gleichzeitig an beiden Ohren an. Wenn der Schall von weiter rechts kommt, färbt nicht nur die Ohrmuschel den Klang anders, sondern durch die kleine Verzögerung, mit der der Schall am linken Ohr ankommt, entsteht ein Kammfiltereffekt, der wiederum das Schallereignis verfärbt.

Ambiophonie und der RACE Algorithmus

Ambiophonie nimmt die beiden Lautsprecher und stellt sie extrem nahe beieinander vor dem Hörer auf. Das führt zunächst dazu, dass die Signale beider Lautsprecher von den Ohrmuscheln so ungefiltert wie möglich an den Ohren ankommen. Ausgebildete Stereohörer wie ich runzeln die Stirn und fragen: und wie soll nun die Stereo-Basisbreite zustande kommen? Normalerweise positioniert man die Lautsprecher zum Hörer im gleichseitigen Dreieck, also in 60° Winkeln. Zwischen den beiden Lautsprechern findet dann das räumlich-klangliche Geschehen statt. Wenn nun die Basisbreite auf 10-20° zusammengezogen wird, dann würde man eigentlich ein nur etwas breiteres Mono erwarten. Also, präsenter guter Klang, aber mono?

Vergleich der Lautsprecher-Aufstellung bei klassischer Stereofonie (rot) gegenüber Ambiophonics (schwarz). (Grafik: Robin Miller; Howard Moscovitz)

Zur Ambiophonie gehört eine Verzögerungsstrategie. Nein, nicht das berühmte sich vor der Aufgabe herumdrückende Prokrastinieren, sondern ein Netzwerk aus Delays und invertierenden Feedbackschleifen, dass dafür sorgt, dass am linken Ohr das Signal des rechten Lautsprechers unterdrückt wird und umgekehrt (crosstalk cancellation filter). Im einfachsten Fall spielt auch der linke Lautsprecher das Signal des rechten Lautsprechers ab, allerdings phaseninvertiert und gerade so weit verzögert, dass dieses phaseninvertierte Auslöschungssignal gleichzeitig mit dem Originalsignal vom rechten Lautsprecher am linken Ohr ankommt . Dadurch löscht es sich aus und man hört – zumindest theoretisch – das Signal des rechten Lautsprechers nicht mehr am linken Ohr.

Blockschaltbild des Ambiophonics-Transcoders: Herzstück ist der Crosstalk-Cancellation-Block (rechte Hälfte), der per RACE-Algorithmus dem akustischem Übersprechen der Lautsprecher untereinander entgegenwirkt (Grafik: Tsai-Yi Wu)

Allerdings: Wenn unser Übersprechverhinderungsgerät ein Auslöschungssignal am linken Lautsprecher ausgibt, um das Signal des rechten Lautsprechers am linken Ohr auszulöschen, wird das Auslöschungssignal leider auch vom rechten Ohr gehört. Frühe Übersprechverhinderer, wie das Carver/Sunfire-Hologramm und Lexicons Panorama, begnügten sich damit, das Signal des rechten Lautsprechers am linken Ohr auszulöschen und die Tatsache zu ignorieren, dass das Auslöschungssignal vom rechten Ohr gehört wurde. Modernere Algorithmen wie RACE gehen rekursiv vor: das Auslöschungssignal, das wir gerade am linken Lautsprecher ausgegeben haben, wird in einem nächsten Schritt mit einem weiteren, etwas leiseren Auslöschungssignal am rechten Lautsprecher bekämpft. Und das dann wieder mit einem weiteren, wieder etwas leiserem am linken. Und immer so weiter, bis nichts mehr vom Auslöschungssignal zu hören ist.

Wer sich mehr in die technische Materie einlesen will, sei auf diesen Artikel des Ambiophonie-Begründers Ralph Glasgal verwiesen: Understanding and Installing an Ambiophonic System, zu finden auf der insgesamt sehr rührigen Webseite zum Thema ambiophonics.org.

Sehr leicht und eindrucksvoll auszuprobieren ist diese Technik über das ARIA-3D Plugin für Chrome mit imposanten Hörbeispielen auf der Webseite aria3d.com.

Fazit

Ein Versprechen von Ambiophonie ist größere Klarheit des Klangs, allein schon dadurch, dass die räumliche Klangwahrnehmung nicht mehr durch falsche Ohrmuschelinformationen verfälscht wird. Denn die Phantommitte ist ja unter anderem deswegen so unstabil und schwammig, weil die Ohrmuscheln die Filter für die Richtung halb-links und halb-rechts über den Klang legen, obwohl der Klang vorne aus der Mitte kommen soll. Da kämpfen dann die verschiedenen Wahrnehmungssysteme des menschlichen Hörens miteinander. Wenn nun die Signale tatsächlich vorne aus der Mitte kommen, wie aus einem Center-Lautsprecher, klingt das sehr viel direkter und klarer. Schlichtes Ergebnis: Sänger beispielsweise klingen in Ambiophonie tatsächlich sehr viel lebensechter!

Nun zur Frage: entsteht eine Stereobreite? Ja, und wie! Nicht nur deutlich mehr als man erwarten würde und sogar deutlich mehr, als man von gewohnten Stereosetups kennt. Es ist tatsächlich ganz schön beeindruckend. Zu meiner Überraschung funktioniert der Effekt auch nicht nur an der Hörposition in der Mitte vor den Lautsprechern sondern umfasst einen teilweise größeren Hörbereich als bei konventionellem Stereo.

Aber warum will ich das nun nicht immer haben?

Aber warum will ich das nun nicht immer haben? Nun, als Klangnerd gefällt mir nicht, dass man die rekursiven Delays auf Signalen mit schnellen Transienten durchaus auch als klangverfälschend empfinden kann. Für mich als Produzent, dessen Arbeit zu 99.9% auf nicht-ambiophonischen Anlagen gehört wird, ergibt das also keinen Sinn, auf einer Ambiophonie-Anlage zu produzieren.

Mein gewohnte Arbeitsumgebung mit dem Klang als Phantommitte aus dem Laptop heraus.

Außerdem empfand ich es irgendwann als störend, dass die Hauptrichtung des Klanggeschehens von *neben* meinem Laptop kam und nicht wie gewohnt als Phantommitte aus dem Laptop heraus.

Aber in Umgebungen, in denen man die Lautsprecheraufstellung unter Kontrolle hat, z.B. im Theater oder in Klanginstallationen, ergibt das absolut Sinn, mit dieser Technik zu arbeiten. Dort kann man dann in Situationen, in denen architektonisch bedingt die Basisbreite zu gering ist, z.B. in einer Skulptur oder am hinteren Ende der Bühne, die wahrgenommene Stereobreite massiv vergrößern. Interessant könnte auch das Experiment sein, mit zwei nahe beieinander hängenden Centerclustern in Stereo zu arbeiten. Denn ein Centercluster ist für die gleichmäßige Beschallung eines Zuschauerbereichs Lautsprechern an der Seite physikalisch deutlich überlegen. Zwei davon im ambiophonischen Betrieb dürften ein sehr knackiges und präsentes, und trotzdem breites Klangbild ergeben.

In jedem Fall ist Ambiophonie ein weiteres interessantes und mächtiges Werkzeug für den Sounddesigner. Sie ist leicht herzustellen und löst Probleme auf originelle Art und Weise. Ich bin gespannt, wie ich die Technik einsetzen werde.