Der moderne Tod

Die Fiktion ist radikal real: Ende der 1970er Jahre lädt die schwedische Regierung (Projektgruppe: DELLEM) zu einem geheimen Symposium ein über das Thema „Der letzte Lebensabschnitt des Menschen“. Dabei geht es in Wahrheit darum, wie man sich der überalteten Gesellschaft entledigen kann, die man sich nicht mehr leisten kann oder leisten will. Diskutiert wird ganz praktisch die Frage, wie man die unproduktiven Alten und andere überflüssige Menschen auf möglichst humane Weise umbringen kann. Terroristische Methoden liegen einem aufgeklärten Sozialstaat wie Schweden, in dem Gemeinwohl vor Eigennutz geht, selbstverständlich fern.

Wijkmark war ganz offensichtlich der Zeit um einige Jahrzehnte voraus, und was er zu sagen hatte, ist noch heute unangenehm.

Zu Wort kommen in der literarischen Versuchsanordnung „Der moderne Tod“ von Carl-Henning Wijkmark neben dem einladenden Ministerialdirektor Bert Persson ein Medizinethiker, ein Schriftsteller und Geisteshistoriker sowie – fast schon ironisch kurz – ein Theologe. Bis auf den Schriftsteller sind sich alle Experten darüber einig, dass man die Bevölkerung vor allem davon überzeugen muss, wie schädlich sich das egoistische Festhalten am eigenen Leben auswirkt, und wie sehr es die ökonomische Zukunft des Landes gefährdet. Zuerst erschienen 1978, wurde das Buch erst 2001 ins Deutsche übersetzt, beide Male ohne weiteres großes Echo. Wijkmark war ganz offensichtlich der Zeit um einige Jahrzehnte voraus, und was er zu sagen hatte, ist noch heute unangenehm. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass in dem Buch ein Alter von 80 als krass hoch gilt. Darüber lächeln wir ja heute nur.

In heutigen Zeiten, in denen die Alten mit ihren vielen Stimmen wichtigen Reformprojekten im Wege stehen (man denke an die Abstimmung zum Brexit oder auch an Blockaden beim Klimaschutz), dazu uns Jungen immense Kosten durch ihre Pensionsansprüche und Gesundheits- und Pflegekosten aufbürden, sind sie nun einer immensen Gefährdung durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgesetzt, die wir mit einer wirtschaftlichen Gegenkatastrophe bekämpfen müssen, die nicht nur uns Jungen die Luft zum Atmen raubt. (Anmerkung: wie sich immer mehr herausstellt, sind nicht nur die Alten gefährdet, sondern auch die Jungen. Trotzdem stellen die Alten anteilsmäßig die Hauptrisikogruppe dar, deswegen bleiben die Überlegungen relevant.)

Untergegangen im Sturm der Corona Schlagzeilen ist die Meldung, dass dieses Jahr den Alten eine überplanmäßige Rentenerhöhung beschert wird. Das nahm eine mir nahestehende Pensionistin bereits zum Anlass, in voreilendem Schamgefühl die Verteilung ihrer Rentenerhöhung an die Jungen bekanntzugeben. (Freilich steht den Alten die Rentenerhöhung zu.)

Ein guter Zeitpunkt, das Buch mal wieder zu lesen, auch um mich an die moralischen Argumente zu erinnern, die Wijkmarks Medizinethiker Caspar Storm vorbringt, um die Entscheidungsketten in der schwierigen Situation der „Triage“ zu erläutern. Eine Triage findet notgedrungen dann statt, wenn es mehr Kranke oder Verletzte gibt als Behandlungsmöglichkeiten und entschieden werden muss, wer behandelt wird und wer nicht.

 

Menschenwert und Gesellschaftswert

In Storms ersten Beispiel wird nur mit Überlebenschancen gerechnet: eine schwere Gehirnblutung mit 10% Überlebenschance und ein Verkehrsunfall mit 50% Überlebenschance. „Der Fall ist klar, die Gehirnblutung muss weichen“.

Im zweiten Beispiel steht die Wahl zwischen zwei Personen mit den gleichen Überlebenschancen. Der eine ist schwachsinnig, der andere Nobelpreisträger. Auch hier ist ihm die Wahl klar: „Ich habe jedenfalls noch keinen Arzt getroffen, der so idealistisch war, dass er gezögert hätte, den Nobelpreisträger zu retten.“ Hier werden Menschenwert und Gesellschaftswert bestimmt und gegeneinander abgewogen. In Zeiten der Euthanasie war die Antwort freilich noch wesentlich einfacher.

In seinem dritten Beispiel wird es komplizierter: Zunächst steht die Wahl an zwischen einer 20-jährigen Pianistin („ein strahlendes Versprechen für die Musikwelt“) und einem 45-jährigen Waldarbeiter. Während die junge Frau alleinstehend ist, hat der Arbeiter eine Familie mit vier minderjährigen Kindern. Hier ist die Bewertung des Gesellschaftswerts dominant und gibt den Ausschlag für den Waldarbeiter.

Während sich die Ärzte an die Arbeit machen, kommt aber noch ein 60-jähriger Regierungspolitiker dazu, Junggeselle, der betrunken gegen einen Baum gefahren ist. Zu meiner Überraschung entscheidet sich der Medizinethiker für den Politiker und begründet das mit der katholischen Moralauffassung, dass der Gesellschaftswert eines Politikers als so groß angesehen werden kann, dass ihm höchste Priorität zukommt: „Er muss gerettet werden um des Staates willen, der nach modernen Gesichtspunkten der höchste aller Werte ist, auch wenn wir ihn lieber ‚Gesellschaft‘ nennen.“ Dabei schlägt der Politiker übrigens auch den Nobelpreisträger. Und der Medizinethiker verheimlicht auch nicht, dass dem Nobelpreisträger sein Preis nichts nutzen würde, wäre er ein Nobelpreisträger der Literatur. Als Literat stünde er zusammen mit der Pianistin ganz unten auf der gleichen Stufe, hätte nur einen kulturellen, ästhetischen und hobbybetonten Gesellschaftswert, mit nur marginalem wirtschaftlichen Wert, also verzichtbar.

Wir wären die ersten, die aussortiert würden.

Der Virologe Christian Droste bezeichnete unser Metier kürzlich mal als „Spaßveranstaltungen“ sicherlich nicht boshaft. Aber ein Grund mehr für uns Künstler, zuhause und gesund zu bleiben, und dadurch mit dafür zu sorgen, dass die Situation der Triage nicht eintritt. Wir wären die ersten, die aussortiert würden. Wobei, mit meiner Familie hätte ich vielleicht Chancen zu überleben.

 

Das Spiel ist aus

Wijkmarks Schriftsteller Axel Rönning reagiert darauf in seiner Replik mit großem Pathos, damit kann ich mich als Opernkomponist natürlich total identifizieren. Tatsächlich machte ich mir dieses Pathos in meiner Oper „Happy Happy“ (2014) als bestimmende Emotion zu eigen: ich erfand meine Protagonistin als eine Sängerin, die eigentlich nur singen will, sich aber ständig gegenüber der Gesellschaft dafür rechtfertigen muss, dass sie keinen Nutzwert einbringt.

„Jetzt haben wir Dich, Du Hund! Dein Leben konnten wir nicht richtig töten, aber bei Deinem Tod wollen wir ganze Arbeit leisten. Individuum? Integrität? Red keinen Quatsch, wir machen nur unseren Job. Wir sind lange hinter Dir her gewesen. Wir haben Dir verboten, im Hof zu spielen, haben Dich aufgeschrieben, als Du heimlich geraucht hast, haben Dich Dein ganzes Leben mit Formularen und Computern schikaniert. Alles was Dein war in Deinem Leben wollten wir töten, Du solltest Mist produzieren, den die Gesellschaft braucht, und nicht Deine eigenen Erfindungen. Du bist eine ganze Zeit lang entkommen und hast geglaubt, Du wärest frei und lebtest, aber wir haben Dich erwartet und heute nehmen wir Revanche. Jetzt wirst Du eingesaugt, jetzt bist Du hier, jetzt rächt es sich, dass Du das Gewissen vor die Anpassung gesetzt hast, die Phantasie vor den Alltag, die Freiheit vor die Sicherheit, die Welt vor die Isolation – kurz und gut, nicht tot genug warst. Wir sind die Knicker, wir sind die Puritaner, jetzt kommt die Spritze, jetzt wird ein Loch gestanzt, wir sind des Todes Computerparvenus – das letzte Loch, und das Spiel ist aus. Jetzt bist Du einer von uns, genauso tot wie wir. Mist und Dünger sollst Du werden und endlich von geringem Nutzen. Und weg mit ihm und hinein mit dem Nächsten! Hier wird die Beschäftigung gefördert, hier wird Platz gemacht für die Sicherheit, die Jugend vor!“

Es ist leider komplex und mühsam, den Humanismus argumentativ zu verteidigen.

Dies lässt Wijkmark den Schriftsteller Rönning als Parenthese sprechen, als einen persönlichen Ausdruck des Schriftstellers für das, was er angesichts der in dem Symposium dargestellten Gesellschaftsentwicklungen empfindet. Ich möchte auch gerne glauben, dass dieser Monolog alter ego die eigene Emotion des Autors Wijkmark abbildet. Als Geisteshistoriker trägt Rönning nun eine Abhandlung vor über die geschichtliche Entwicklung von Menschenrecht und Menschenwürde als Naturrecht. Dabei überfordert er in seinem intellektuellen Anspruch manchmal nicht nur mich als Leser, sondern offensichtlich auch die utilitaristischen Denker der fiktiven Expertenrunde. Auch das erkenne ich den heutigen Diskussionen wieder. Es ist leider komplex und mühsam, den Humanismus argumentativ zu verteidigen und es ist mühsam, ihn als unumstößlich anzuerkennen in einer Welt, die vor so massiven praktischen Problemen steht. Warum unumstößlich? Weil wir sonst Türen und Tore zurück in die Barbarei öffnen.

Rönning: „Lieber einen Nobelpreisträger retten als einen Schwachsinnigen, sagt Herr Storm. Aber der Schwachsinnige und der Nobelpreisträger sind ja nur Gegenpole auf einer Skala, auf der wir uns alle befinden. Es wäre ehrlicher gewesen, wenn er gesagt hätte, lieber einen Landsmann als einen Ausländer, oder warum nicht lieber einen Weißen als einen Neger, wie ich die Jury in Seattle deutlich hören kann. Es ist tragisch, dass sich die medizinische Ethik dazu hergibt, eine der wichtigsten Sperren der Humanität anzutasten, die Sperre gegen die Selektion.“

 

Ein gigantisches Preisschild

Zurück zum heute: „Die Wirtschaft wieder zum Geld zu bringen, ist eine viel umkehrbarere Sache als die Menschen wieder zum Leben zu erwecken,“ sagte Bill Gates kürzlich in einem TED Gespräch zur Frage, wie die Menschheit auf das Coronavirus reagieren sollte. Er rechnet mit dem gigantischen Preis von 4 Billiarden Dollar, den diese Krise der Weltwirtschaft kosten wird. Aber im Großen und Ganzen „wird diese Angelegenheit im globalen Maßstab in zwei bis drei Jahren vorbei sein“. Auch der sicherlich keiner Systemkonformität verdächtige linke Intellektuelle Noam Chomsky rät zur Gelassenheit und erinnert daran, dass wir den Coronavirus überstehen werden, die Konsequenzen der Erderwärmung hingegen sind irreversibel.

Lasst uns über unserer völlig berechtigten und grausamen Existenzangst nicht die Ideale des Humanismus aufgeben.

Lasst uns über unserer völlig berechtigten und grausamen Existenzangst nicht die Ideale des Humanismus aufgeben. Lasst uns dabei mithelfen, das Virus nicht zu verbreiten. Eine Situation der Triage im globalen Maßstab ist in all ihren Konsequenzen noch viel schlimmer als die gravierenden Einschnitte in unseren Leben, mit denen wir noch lange zu kämpfen haben werden.

Textauszug aus "Der moderne Tod"

Der moderne Tod

Vom Ende der Humanität

Carl-Henning Wijkmark

Gemini Verlag Berlin, 2001

Aus dem Schwedischen von Hildegard Bergfeld

Die Originalausgabe „Den moderna döden“ erschien 1978 im Verlag Cavefors.

https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/der-moderne-tod.html